Wenn die Verarbeitung einer Geburt 10 Jahre dauert. Ein Brief an mein Kind.
Mein lieber Paul!
Wir haben uns damals so unendlich auf Dich gefreut und auch Dein bald großer Bruder Max war ganz aus dem Häuschen.
Die Schwangerschaft mit Dir verlief problemlos und auch der Umstand, dass Du Dich nicht umdrehen wolltest in meinem Bauch und mir deshalb ein Kaiserschnitt nahegelegt wurde, machte mir keine Angst.
Der erstmögliche Termin zum Kaiserschnitt in meinem Wunschkrankenhaus war der 21.01.2008, mein Geburtstag, und wir entschieden uns dafür.
Der Tag Deiner Geburt
An den Kaiserschnitt an sich und auch die Tage danach habe ich so unheimlich wenig Erinnerungen, dass ich glaube, mein Unterbewusstsein hat es weggesperrt. Erst als vor einigen Tagen eine Mama ein ziemlich ähnliches Erlebnis teilte, bei dem ihr Kind allerdings verstorben war, merkte ich an meinen nicht enden wollenden Tränen, dass ich erstens unendliches Glück habe Dich heute in meine Arme schließen zu können, aber auch wie viel alter Schmerz von damals in mir hochkam, den ich einfach nicht zulassen wollte und konnte.
Als sie Dich auf die Welt holten, hast Du nicht geschrien und auch nicht geweint. Ich konnte Dich nicht ansehen und auch nicht auf meiner Brust haben, so wie ich es mit Deinem Bruder kannte.
Das Trauma nach der Geburt
Du warst einfach weg!
Mein Kind, mein Baby, das, worauf wir alle so sehnsüchtig warteten, wurde mir einfach entrissen und ich konnte nichts tun.
Niemand klärte uns auf oder erklärte uns, was los war. Ich fühlte mich einfach leer, körperlich und seelisch.
Warum ist niemand von den vielen Mitarbeitern in der Lage die Eltern zu begleiten, während Ihnen das Wichtigste auf dieser Welt entrissen wird.
Natürlich war und ist mir bewusst, dass es in erster Linie um das Kind geht und dennoch hätte ich mir ein wenig mehr Einfühlungsvermögen gewünscht.
Dein Befinden nach der Geburt
Kurze Zeit später lag mein Kind röchelnd in einem Brutkasten im Aufwachraum neben mir und ein Arzt kam herein, der mich fragte, ob ich erlauben würde, dass sie Dich mir wieder wegnehmen. In ein anderes Krankenhaus am anderen Ende der Stadt.
Natürlich wollte ich nur das Beste für mein Kind und erlaubte es ihnen erneut.
Nun lag ich also da. In einem Krankenhaus nach der Geburt ohne mein Kind.
Du warst ganz allein nach der Geburt
Aber noch viel schlimmer für mich ist im heutigen Rückblick, dass DU allein warst. Du warst allein mit Stimmen, die Du nicht kanntest, in einer Umgebung, die Du nicht kanntest, auf einer Welt, die Du nicht kanntest.
Was hat das wohl mit Dir gemacht? Ich weiß es leider nicht.
Ich habe geschworen Dich immer zu beschützen und konnte es doch nicht.
Erst am nächsten Tag durfte ich mit dem Taxischein und einer frischen Kaiserschnittnaht zu Dir und den ersten Anblick werde ich nie vergessen.
Da lag mein Kind mit einer Nadel im Kopf und einem Schlauch in der Nase in einem Glaskasten und hatte laut der Ärzte Luft zwischen Herz und Lunge, die sich niemand erklären konnte.
Ich bin der Säuglingsintensivstation bis heute unendlich dankbar, dass sie Dich so gut überwacht haben und Dir die medizinische Hilfe gegeben haben, die Du benötigtest.
Die Liebe einer Mama hat Dir und auch mir in diesen Tagen jedoch leider gefehlt und ich werde diese ersten Tage nie mehr in meinem Leben zurückbekommen.
Dein kleiner Körper musste ständig geröntgt und gepikst werden und es tut mir immer noch weh, wenn ich daran denke.
Im Rückblick merke ich, wie mein rationales Denken damals einfach funktioniert hat und meine Gefühle sich irgendwo vergraben haben.
Ich habe funktioniert und agiert wie ein Arzt, weil ich wusste, dass es nötig war, um Dir zu helfen.
Unsere emotionalen Schmerzen nach der Geburt
Nur emotional und seelisch hat weder Dir noch mir jemand wirklich helfen können.
Du hast gekämpft wie ein kleiner Löwe und ich gelitten wie eine Löwenmama.
Ich bin so unendlich dankbar, dass nach einer Woche alles gut war und wir Dich nach Hause holen konnten und dennoch bin ich bis heute traurig über die eine Woche, die das Leben uns beiden einfach genommen hat.
Wir wurden um eine gemeinsame Woche bestohlen, eine der wichtigsten Wochen in Deinem und auch meinem Leben.
Du hast Dich so wundervoll in diesen 10 Jahren entwickelt und ich bin mir nicht sicher, ob nicht auch Du diese eine Woche tief in Deinem Inneren vergraben hast und sie Dich irgendwann einholen wird.
Ich kann Dir nur eines versprechen. Ich bin für Dich da und lasse Dich nie allein. Ich war mit meinen Gedanken und meinem Herzen auch in dieser Zeit ganz bei Dir.
Verzeih mir, dass ich nicht dasein konnte.
Ich liebe Dich unendlich.
Deine Mama
So schön geschrieben und da kam nur gerade der Gedanke, dass ich meiner Tochter zum Geburtstag auch so ähnliche Zeilen zukommen lasse.
Sie wird in wenigen Tagen 25 und auch ich musste sie 2 1/2 Wochen fast alleine lassen, im Wärmebettchen auf der Intensivstation.
Auch wenn ich keinen Kaiserschnitt hatte, so hätte man Sie mir doch einfach entrissen ohne etwas zu sagen.
Ich kam auf Station und wir haben auf die kleine Maus gewartet.
Sie kam nicht und keiner sagte mir etwas.
Bis mein Mann und ich dann mal nach gefragt haben.
Wir hatten ja keine Ahnung, sie war das erste Kind.
Die Zeit hat mich so geprägt, dass ich bei den anderen drei gesagt habe, wenn alles gut verläuft, verlassen wir nach der Geburt sofort das KH.
Man funktioniert nur, dass hast du genau richtig gesagt.
Meine Tochter hat später, wenn wir mal wegfuhren am Abend zu Freunden oder so, nach ein paar Minuten hinterher telefoniert, wann ich wieder da bin. Auch hatte sie lange Zeit immer ein T Shirt von mir zum schlafen im Bett zum kuscheln….
Liebe Pea, vielen Dank für Deine offenen Zeilen. Ich glaube, dass es sehr vielen Müttern da draußen so geht wie uns und sie es lediglich verdrängt haben. Ich denke für das Personal im Krankenhaus ist es Alltag und Routine und nicht einmal böse gemeint, wenn sie so handeln, doch wie kann so ein Erlebnis für eine Mama Routine sein? Diese Zeilen zu schreiben ist mir nicht leicht gefallen, aber ich habe gemerkt, dass sie aus mir heraus wollen, also habe ich dem Flow nachgegeben.
Ich wünsche Dir viel Kraft bei Deinem Brief.
Alles Liebe
Anke
Liebe Anke,
Wie gut kann ich es dir nachempfinden! Bei uns ist es mit der zweiten Tochter ähnlich passiert. Ich habe während der Geburt einen Gebärmutterriss und Blasenruptur gehabt und sie haben meine Tochter binnen 6min raus gebracht. Sie kam zuerst auf die intensiv Station des Kinderkrankenhauses, weil sie schlecht geatmet hat und hohe Entzündungswerte hatte. Derweil lag ich bewusstlos vor dem Skalpell – die Ärzte haben drei Stunden gebraucht um mich zu flicken. Danach kam ich auf die Aufwachstation. Als mein Mann mich besuchen kam, hat er mir schon ein erstes Foto von der Kleinen gezeigt. Erst am Abend, also ein Tag nachdem sie geboren war, kam ich endlich mit ihr in Kontakt! Das Gefühl des Moments war unbeschreiblich. Ich habe sie gleich an meine Brust gelegt, so gut es eben ging mit all den Kabeln und meiner Kaiserschnittnarbe.
Nach 6 Tagen durften wir Heim.
Der Anfang war nicht leicht. Ich habe in den ersten Monaten viel Hilfe gebraucht. Und sie nicht immer bekommen. Letztes Jahr war ich bei einer Therapeutin, die in Geburtstraumas spezialisiert ist. Dank ihrer Arbeit kann ich heutzutage schon von dieser Zeit erzählen ohne das ich zittere und mir Tränen in den Augen steigen. Es ist gut Hilfe zu suchen!
Liebe Grüße und alles Gute,
Ana.
Liebe Ana,
vielen Dank für Deine offenen Worte.
Ich finde es toll, dass Du eine Therapeutin aufgesucht hast, denn oft schleppt man dieses Trauma Jahre lang mit sich herum.
Schön, dass es Euch jetzt gut geht.
Ganz liebe Grüße
Anke
Danke für die tollen Zeilen. Meiner Maus und mir ist das gleiche passiert. Ich kann so mit dir mitfühlen.
Ich danke Dir von Herzen, dass Du Dir die Zeit genommen hast es zu lesen und hoffe Deiner Maus geht es gut. Alles Liebe Anke